»Ost-West-Diskussionsforum« Nr. 6
April 1989
LeipzigerChronik
Unter dem Titel »Die Mucke« haben Mitarbeiter der
Arbeitsgruppe Menschenrechte und des Arbeitskrei-
ses Gerechtigkeit in Leipzig eine umfangreiche
Dokumentatiori ijber ihre Arbeit im letzten Jahr (seit
Februar 1988 bis zur Freilassung der im Januar Ver-
hafteten) zusammengestellt. Diese Dokumentatiori
schildert in aller Ausfuhrlichkeit die Entwicklung der
Arbeit der unabhangigen Gruppen in Leipzig, ihre
Konfiikte mit dem Repressionsapparat des Staates,
Vorwort
„ Was war Jos in Leipzig? " So fragte
nicht nur die oJunge Welt« am 17.
Januar, sondern auch all jene, fur die
Versammlungs-, Meinungs-, Presse-
und Vereinigungsfreiheit zu einer
demokratischen Gesellschaft geho-
ren. Was in Leipzig los war, soU hier in
Form einer Chronik des letzten Jahres
und als Bericht iiber die wohl grol^te
Solidarisierungswelle nach einem
„Ereignis" aufierhalb von Berlin, die
die DDR seit Jahren eriebte, vorgelegt
werden.
Welche (kirchen-)politischen Bemii-
hungen zur Beilegung des Konfliktes
fiihrten, ist schwrer zu beurteilen, weil
nach dem gegenwartigen Informa-
tionsstand schwer zu unterscheiden
ist, was Geriicht, was gezielte Fehlin-
formation und was durch Indiskretion
offentlich Gewordenes ist. Dies kon-
nen die Verfasser, schon weil ein prin-
zipielles Mifltrauen von seiten des
Staates und der Kirchenleitung ihnen
gegeniiber besteht, zum jetzigen Zeit-
punkt nicht leisten. Weder den Betrof-
fenen noch ihren Freunden wurden
die Hintergrunde fiir die Einstellung
der Ermittlungsverfahren nach § 25
der StPO mitgeteilt.
Einige dieser „Informationen" wol-
len wir hier jedoch hervorheben, ohne
ihren Wahrheitsgehalt wirklich iiber-
priifen zu konnen. Kampfgruppenmit-
glieder in ZivU, die gegen die Demon-
stranten vom 15. 1. vorgehen sollten,
soUen - irritiert durch die Teilnahme
von Eltern mit Kindern — Befehle nicht
befolgt und einen von der Auflosung
der Demonstration geplanten Ring um
die Demonstranten nicht geschlossen
haben, so daB es nur zu einer Blockade
durch Bereitschaftspolizei kam. Ande-
re soUen — im Nachhinein dariiber
gefragt, wie sie in Zukunft handein
wurden - ihren Unmut iiber das Vor-
gehen gegen friedliche Demonstran-
ten geauBert haben. Fiinfundsechzig
Austritte und Ausschliisse aus den
Kampfgruppen sollen die Folge gewe-
sen sein. Am 18.1. soil es eine Sitzung
der Bezirksleitung der SED gegeben
haben, bei der auch der 1 . Sekretar der
Bezirksleitung der SED in Dresden,
Modrow, und 2 Politbiiromitglieder
anwesend waren, die die Verhaftun-
gen als nicht im Interesse der SED
bezeichneten. Die Staatssicherheit
soil jedoch die Ereignisse in Leipzig
zum AnlaB zu nehmen versucht
haben, gegen die gesamte Friedens-
und Biirgerrechtsbewegung der DDR
vorzugehen, wofiir zumindest die Vor-
ladungen „zv\;ecks Klarung eines
Sachverhaltes " vom 16.1. ein Indiz lie-
fern. Und schlieBlich soil der Staats-
ratsvorsitzende Erich Honecker nach
einem Gesprach mit dem schwedi-
sowie ihre Diskussionen mit der Kirchenleitung.
Wegen des Umfangs der Dokumentation sehen wir
uns leider gezwungen, diese in zwei Teilen zu verof-
fentlichen.
Eine Reihe in der Dokumentation nochmals publi-
zierter Texte sind bereits im »Ost-West-Diskussions-
forum« veroffentlicht worden. in diesen Fallen ver-
weisen wir nur auf die entsprechende Veroffentli-
chung. -g.k.b-
schen Ministerprasidenten L Carlsson
am 24. 1. personlich die Einstellung
der Ermittlungsverfahren angeordnet
haben.
I. „Was war los in Leipzig?
EINE CHRONIK
jj
13. 2. '88
In einem Meditationsgottesdienst
mit anschlieBender Vorstellung von
Leipziger Basisgruppen und Benefiz-
konzert in der Michaeliskirche wird
iiber Perspektiveri der Arbeit der
Gruppen nach den Vorgangen um die
Luxemburg-Liebknecht-Demonstra-
tion 1988 nachgedacht.
19.2. '88
Vor etwa 900 Ausreise-Antragstel-
lern spricht Pfarrer Fiihrer in der Niko-
laikirche iiber „Leben und Bleiben in
der DDR". DaB ein Abend zu diesem
Thema in einer Kirche stattfindet,
wird von den Ausreise-Antragstellern
als endgiiltiges Zeichen der Kirche zur
Hilfe fur ihr Problem (mifi-)verstanden.
Im AnschluB an den Vortrag stellten
8
sich die Antragsteller Manfred Hart-
mann, Frank Wolfgang Sonntag, Dr.
Steffen Kind und Dr. Michael Kunze
(alle sind Mitarbeiter der nArbeits-
gruppe Ausreise des Arbeitskreises
GerechtigkeitH und des Gesprachs-
kreises um Jugendpfarrer Kaden) als
Kontaktpersonen zur Ausreiseproble-
matik vor.
AuBerdem wird eine Eingabe an
den RechtsausschuB der Volkskam-
mer verteilt. Darin wird die Verwun-
derung zum Ausdruck gebracht, daB
man/frau sich offensichtlich „landes-
verraterischer Beziehungen " schuldig
machen mufi, um die DDR ziigig ver-
lassen zu konnen. Gleichzeitig wird
um erne klare gesetzliche Regelung
gebeten, die sich an internationalen
Da zum einen die Aktivitaten der
Leipziger Gruppen nicht so im Blick-
punkt der Offentlichkeit standen und
zum anderen, um die Entv/icklung
zum 15. 1. und den Kontext der Ereig-
nisse aufzuzeigen, halten wir es fiir
notig, mit einer Chronik des letzten
Jahres zu beginnen. Diese Chronik ist
sicher unvollstandig. Auch die Solida-
ritatsbekundungen konnten wir nicht
alle erwahnen; zum einen, weil uns
sicher manches unbekannt blieb und
zum anderen, weil alles aufzuschrei-
ben den Rahmen dieser Dokumenta-
tion gesprengt hatte. Wir bitten all
jene, die sich iibergangen fiihlen, hier-
fiir um Entschuldigung. An Erganzun-
gen und Meinungsaufierungen sind
wir jedoch interessiert. Es versteht
sich von selbst, daB Zitate und Doku-
mente nicht in jedem Fall die Meinung
der Verfasser wiederspiegeln.
Kathrin Walther, 7050 Leipzig,
MeiBnerStr. 31
Thomas Rudolph, 7050 Leipzig,
MeiBnerStr. 31
Frank Richter, 7050 Leipzig,
Michael- Kazmierczak-StraBe 18
Leipzig, Marz 1989
Konventionen ausrichten miiBte. Der
Brief fand weite Zustimmung und
wurde im Februar, Marz und April von
etwa 5 000 Antragstellern in der gan-
zen DDR abgeschickt. In der Folge des
Abends bildet sich neben dem schon
bestehenden Gesprachskreis von
Ausreise-Antragstellerlnnen um
Jugendpfarrer Kaden ein weiterer um
Pfarrer Fiihrer.
27. 2. '88
Wahrend des Basisgruppentreffens
„Frieden konkret VI" vom 26. bis 28. 2.
in Cottbus vjeiden gegen I6.00 Uhr
nach einer AusweiskontroUe Brigitte
Moritz (AG Friedensdienst) und Rai-
ner Miiller (Umweltgruppe Borna)
durch die Dt. Volkspolizei zugefiihrt.
Nach der Beschlagnahme ihrer
I.- DDR
Tagungspapiere werden sie zu Inhalt
und Zielsetzungen dieses kirchlichen
Seminars befragt, wrobei Rsiiner Miiller
auch korperlich hart bedrangt wird.
28. 2. '88
In der Reformierten Kirche findet
eine Graphikauktion statt. Der Erlos
von 1 5 000 Mark ist in 3 gleichen Tei-
len fiir die Okumenische Versamm-
lung, die Arbeit von Basisgruppen und
als Hilfsfonds fiir „in Bedrangnis gera-
tene Basisgruppenmitarbeiterlnnen "
bestimmt.
29. 2. '88/ 1.3. '88
Die Mitarbeiter des » Arbeitskreises
Gerechtigkeitn, Frank Wolfgang Sonn-
tag und Dr. Michael Kunze, werden
inhaftiert. Ihnen wird die Erarbeitung
und Verteilung der obengenannten
Eingabe vorgeworfen. In diesem
Zusammenhang werden auch der Mit-
arbeiter des iiArbeitskreises Gerech-
tigkeitH, Dr. Steffen Kind, und einige
Antragstellerlnnen des Gesprachs-
kreises um Jugendpfarrer Kaden
zugefiihrt. Sie aUe und viele Tausend
Antragstellerlnnen sowie einige
wenige Basisgruppenmitarbeiterln-
nen in der ganzen DDR sollen in den
folgenden Monateri nach Zufiihrung
Oder Vorladungen eine Belehrung
unterschreiben, die ihnen die Mitar-
beit an kirchlichen Veranstaltungen
untersagt.
10.3. '88
Aufgrund von Verhandlungen des
Landeskirchenamtes Sachsen mit
staatlichen Vertretern, von Anfragen
des norwegischen AuBeruniniste-
riums, des SPD-Vorsitzenden W.
Brandt, der stadtischen Solidaritat
und der Einsicht staatlicher Organe
werden Herr Sonntag und Herr Dr.
Kunze aus der Untersuchungshaft
entlassen. Ihre Ermittlungsverfahren
nach §214 Abs. 1 + 3 laufen jedoch
noch bis zu ihrer Einstellung am 5.
April weiter.
14. 3. (Messemontag)
Nach dem seit 1981 stattfindenden
montaglichen Friedensgebet in der
Nikolaikirche kommt es zu einer
Demonstration von etwa 300 Antrag-
stellern und Basisgruppenmitarbeite-
rlnnen. Sie gehen von der Nikolaikir-
che durch die Innenstadt zur Thoraas-
kirche und wieder zuriick. Auf dem
Ruckweg fahren einige Tomwagen
der Polizei durch den Demonstrations-
zug hindurch und fordern die Demon-
stranten auf, sich zu zerstreuen. Dar-
aufhin lost sich der Demonstrations-
zug auf. Einige wenige gehen weiter
Richtung Sachsenplatz, von dort wer-
den einige von ihnen zugefiihrt.
29.3.
Der Bezirkssynodalausschun fiir
Frieden und Gerechtigkeit der
Bezirkssynode Leipzig Ost, in dem
auch je ein/e Vertreter/in jeder Leipzi-
ger Basisgruppe sitzt, beschlieflt auf
Antrag Superintendent Magirius':
„Die Gruppen sollen in den nachsten
Fhedensgebeten, die den Rahman
einer Groflveranstaltung angenom-
men haben, die Begleitung eines ver-
antwortlichen Pfaners suchen und
aJczeptieren. " Damit wird die seit 1983
bestehende Prajcis der eigenverant-
wortlichen Gestaltung der Friedens-
gebete durch Laien und Basisgruppen
beendet. Von den Basisgruppen, die
den BeschluB mittragen, wird er aUge-
mein als „Zensurbeschlufl" gewertet.
Am 17. Juni beschlieBt der Bezirkssyn-
odalausschun die Verlangerung die-
ser Regelung bis 31 . Oktober.
Ende April/ 1.5.
Aktivisten verschiedener Gruppen
(darunter Mitarbeiterlnnen des
"Arbeitskreises Gerechtigkeit« und
der »Initiativgruppe Leben«) werden
intensiv beschattet. Vor einigen Woh-
nungen sind bis zu einem Dutzend
MfS-Mitarbeiter im Einsatz. Die
Staatssicherheit befiirchtet eine
eigenstandige Teilnahme an den
staatlichen Maiaufziigen.
1.5.
Rainer Miiller und 3 seiner Freunde
versuchen in Borna (ohne Plakat!) an
den offiziellen Maifeierlichkeiten teil-
zunehmen. Sie werden nach 100 m
von MfS-Mitarbeitern aus dem
Maiaufzug entfernt.
28.5.
Auf dem ersten Leipziger Tag zum
Konziliaren ProzeB, der in der Prob-
steikirche stattfindet, wird iiber die
Themen der Okumenischen Ver-
sammlung gesprochen.
Ende Mai
Biirgerlnnen Leipzigs finden in
ihren Briefkasten Oder lesen an Litfafi-
saulen folgenden Aufruf: (zum 5. Juni
1988 - Weltumwelttag - PleiBege-
denkumzug: in >iOst-West-Diskus-
sionsforumw Nr. 4, Seite 4 ff.)
1.6.
Uwe Schwabe von der iilnitiativ-
gruppe Lebenn wird zugefiihrt. 7
Stunden lang wird er zum am Weltum-
welttag stattfindenden 1. PleiBe-
Gedenkumzug befragt.
3.6.
Roland Quester, der einer Vorla-
dung fur den 2. Juni nicht nachgekom-
men war, wird zugefiihrt und zum sel-
ben Thema befragt.
5.6.
Unter aktiver Teilnahme von Mitar-
beiterlnnen der iilnitiativgruppe
Leben((, des »Arbeitskreises Gerech-
tigkeitH und des uArbeitskreises Soli-
darische Kirche «-Regionalgruppe
Leipzig, nehmen 230 Burgerlnnen
Leipzigs am 1. PleiBe-Gedenkumzug
teil. Der Gedenkmarsch war keine
kirchliche Veranstaltung, sondern
wurde von Staatsbiirgerlnnen in ihrer
Verantwortung fiir die Umwelt durch-
gefiihrt. Er fiihrte von der TeichstraBe
auf einem zweistiindigen Weg durch
DIE
MUCKE
^^i''^*ih
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den Clara-Zetkin-Park Richtung
Innenstadt. Es gibt keine Behinderun-
gen durch die staatUchen Organe (s.
"Umweltblaettera 10/88; iiStreiflich-
ter« Juni 1988). (Den Bericht aus den
i>Umweltblaetter« 10/88 siehe in
))Ost-West-Diskussionsforum« Nr.4,
S.4 ff.)
11.6.
Die fiir diesen Tag geplante 1. Leip-
ziger Zukunftswerkstatt wird bereits
einige Wochen vorher abgesagt, da
die Superintendenten Richter und
Magirius es ablehnen, die Verantwor-
tung zu libernehmen.
12.6.
An der Wallfahrt zum 6. Umweltgot-
tesdienst in Deutzen unter dem The-
ma „Unsere Zukunft hat schon begon-
nen" woUen Mitarbeiterlnnen des
IiArbeitskreises Gerechtigkeit « mit
Spruchbandern gegen Kernkraftwer-
ke und fiir „mehrFreiheit fiirDruckge-
nehmigungen" teUnehmen. Vom Kir-
chenvorstand Deutzen und einigen
Pfarrern werden sie aus dem sich for-
mierenden Zug herausgeholt und
intensiv gebeten (eingeschlossen von
einer Doppelreihe Kirchenvorstands-
mitgliedern und Pfarrern), diese Wall-
fahrt „nicht zu miBbrauchen".
Originalton Pfarrer...: „Machen Sie
doch ihre eigene Demonstration an
einem anderen Ort. " Die Basisgrup-
pen der DDR waren eingeladen, nun
wird eine von ihnen ausgeladen. Die
Gruppe verzichtet dann auf eine Teil-
nahme, wahrend Mitarbeiter der
AGM mit Plakaten an der Wallfahrt
teilnehmen.
27.6.
Die Initiativgruppe Leben gestaltet
unter Leitung von Pfarrer Christoph
Wonneberger das letzte Friedensge-
>iOst-West-Diskussionsforuni« Nr. 6
April 1989
bet vor der Sommerpause. Als konkre-
te Fiirbitte wird in ihm fiir Herm TaHig
Geld gesammelt, da er aufgrund des
Anbringens von Losungen in der
Unterfvihrung am Leuschnerplatz (im
Zusammenhang der Januar-Ereignis-
se) mehrere tausend Mark Strafe und
Schadensersatz zu zahlen hatte. Der
anwesende SuperintendentensteU-
vertreter Wugk distanzierte sich noch
im Friedensgebet von dieser „konkre-
ten Fiirbitte", da sie eine „iUegaJe
SammJung" sei. Diese Distanzierung
steUt einen Ubergriff auf die ausge-
handelte Friedensgebetspraxis dar,
da die Fiirbitte in der Verantwortung
Pfarrer Wonnebergers lag. Diese kon-
krete Fiirbitte v^rurde unter anderem
zum AnlaB fvir die folgende Auseinan-
dersetzung um das Friedensgebet
genommen.
Demonstration von Aiisreisewilligen wahrend
der Leipziger Messe
%•##>;§>:-
'^^^■i
■»*«; '«"f»i
':iipsl*ij i.
8.8.
Die ninitiativgruppe Lebenn, die
>iArbeitsgruppe Menschenrechte",
die »Arbeitsgruppe UmweltschutZK
und der »Arbeitskreis Gerechtigkeit«
gestalten in der MichaeUskirche ein
Gedenkgebet iiber die Gefahren der
Nutzung von Kernenergie.
22.8.
Die Vertreterlnnen der Basisgrup-
penimBezirkssynodalausschui5 i)Frie-
den und Gerechtigkeit« erhalten
einen auf den 15. August datierten
Brief von Superintendent Magirius. In
ihm heifit es unter anderem:
„Die Wikolaikirchengemeinde iiber-
nimmt nach der Sommerpause Durch-
fiihrung und Verkiindigung der Frie-
densgebete seibst. Die meisten Teil-
nehmer sind an den Zusammenkunf-
ten nicht interessiert und engagiert an
den Fiagen iFheden-Gerechtigkeit-
Bewahrung der Schopfungi im Sinne
des konzUiaien Prozesses, sondern
erwarten von der Kirche, daB diese
sich fiir ihre Piobleme einsetzt. "
Herr Magirius ordnet (in Absprache
mit dem Pfarramtsleiter St. Nikolai-St.
Johannis, Pfarrer Fiihrer), ohne daB es
einen Kirchenvorstandsbeschlufl von
St. Nikolai-St. Johannis gibt, ohne sich
mit den Basisgruppen beraten zu
haben, ohne den Beschlufl des
Bezirkssynodalausschusses zu beach-
ten (er gait bis zum 31. Oktober) an,
daB die Basisgruppen von der Gestal-
tung der Friedensgebete ausge-
schlossen werden.
25.8.
13 Mitarbeiterlnnen der ulnitiativ-
gruppe Leben«, des nArbeitskreises
Gerechtigkeitd, der »AktionSiihnezei-
chen«, des iiArbeitskreises Solida-
rische Kirche «-Regionalgruppe Leip-
zig und der »Arbeitsgruppe Umwelt-
schutZK richten eine Protesterklarung
an Superintendent Magirius. In ihr
heiBt es:
„...Sie grenzen uns aus mit der
Begriindung, daB wir aJs Gemeinde
10
■'^;-'^^^- *■■ ^^^-^ ■ " ■> - ':■■-,
)...an den Fragen Frieden, Gerechtig-
keit, Bewahrung der Schopfung im
Sinne des konziliaren Prozesses nicht
interessiert und engagiert sind...(
Gegen diese Verfahrensweise pro-
testieren wir.
Allen Gruppen jst ein tiefes und ehr-
liches Interesse an den Friedensgebe-
ten Selbstverstandnis. Unser Anlie-
gen ist es, in den Gebeten unseren
Problemen, unseren Erwartungen an
die DDR-Gesellschaft, wie auch unse-
rer Stellung zu gJobalen ProbJemen, -
die im konziliaren ProzeB zusammen-
gefaBt sind -, Ausdruck zu verJeihen.
Dies mdchten wir mit unserer eigenen
Sprache, unseren eigenen Gedanken,
der Vielfalt unserer Meinungen, der
Erschiitterung und Besorgtheit tun
und das seibstverstandJich in der uns
eigenen Claubensform.
Die in den Jetzten Monaten vorwie-
gend durch Ausreiseantragsteller ver-
groBerte Gemeinde stellt in den
Augen der Staatsorgane (fiir wen
auch immer) eine potentielle Gefahr
dar. Mit der beabsichtigten Ausgren-
zung der AntragstelJer stellen Sie sich
auf die Seite derer, die dieser Gemein-
de ein ehrliches Interesse an Inhalt
und Botschaft dieser Gottesdienste
absprechen. Die Gemeinde nimmt
aber diszipJiniert und aufmerksam an
den Gottesdiensten teiJ und wachst
mit ihnen.
Ihr Urteil iiber idie meisten Teilneh-
men ist eine Diffamierung!
Mit Befremden steJJen wir fest, daB
die versammeJten TeiJnehmer von
Ihnen nicht als Gemeinde Christi
angenommen werden.
Wir fordern:
- Offenlegung der tatsachlicheri
Hintergriinde Ihrer uns unverstandJi-
chen Entscheidung,
— Wiederhersteilung der Moglich-
keit fiir die Leipziger kircMchen
Basisgruppen, die Friedensgebete in
Eigenverantwortung (unzensiert) zu
gestalten. "
29.8.
Trotz intensiver Bitten verweigern
Superintendent Magirius und Pfarrer
Fiihrer das Verlesen der Protesterkla-
rung und eine Diskussion iiber beide
Texte mit der Gemeinde des Friedens-
gebetes. Daraufhin entschlieBen sich
einige Basisgruppenmitarbeiterln-
nen, die Diskussion nach dem Frie-
densgebet auch ohne Genehmigung
durchzufiihren. Es kommt zu Tumul-
ten. Wahrend ein Basisgruppenmitar-
beiter die Texte verhest, stellt sich
Pfarrer Fiihrer auf eine Bank und sagt
unter anderem:
„Das sind keine Leute von uns
fgemeint ist der BriefverJeser / der
Verfasser). Wenn Sie hier weiter bJei-
ben, arbeiten wir nur dem Staat in die
Hande, der das Friedensgebet je eher,
je lieber, aufhoren lassen w^ill. "
AnschlieBend unterzeichneten 200
Friedensgebetteilnehmerlnnen die
Protesterklarung der Basisgruppen-
mitarbeiterlnnen.
Spater werden gegen die Theologie-
studenten Jochen LaBig und Thomas
Rudolph (beide Mitarbeiter des
"Arbeitskreises Gerechtigkeit«)
wegen ihrer TeOnahme an dieser
Aktion vom Theologischen Seminar,
einer kirchlichen Ausbildungsstatte,
Disziplinarstrafen verhangt.
Noch am Abend des 29. 8.
beschliefit der Kirchenvorstand von
St. Nikolai-St. Johannis, was auf
Anordnung Superintendent Magirius'
I.- DDR
(in Absprache mit Pfr. Fiihrer) nun
schon Friedensgebetspraxis ist.
1.9.
Thomas Rudolph vom » Arbeitskreis
GerechtigkeitK wird zum Leiter der
Volkspohzei des Bezirkes vorgeladen,
well er zu einer Fahrradkette von der
Innenstadt zum Messegelande am 4.
9. aufgerufen haben soil. Dies war
nicht der Fall. Die Staatssicherheit
hatte sich geirrt.
4.9.
Am Tag der Messeeroffnung fahren
etwa 50 Fahrradfahrerlnnen von der
Innenstadt am Messegelande (auf
dem sich der Staatsratsvorsitzende
Erich Honecker und die Politpromi-
nenz aus Ost und West befindet) vor-
bei ins Griine. Ihre Fahrt sollte Zei-
chen fiir eine Solidargemeinschaft all
derer sein, die fiir mehr individuelle
Rechte eintreten. Einige der Teilneh-
merlnnen werden spater „ zwecks Kla-
.ung eines Sachverhaltes" vorgela-
den.
5. 9. (Messemontag)
Vor dem Beginn des Friedensgebe-
tes v^erden in der Nikolaikirche unter
dem Titel „Die Kirche" die Dokumente
des staatlichen und kirchlichen
Dienstweges der Erklarung des Polit-
biiromitgliedes Dr. W. Jarowinsky an
Dr. W. Leich vom 19. 2. 1988 und ein
Offener Brief an den Landesbischof
Dr. J. Hempel iiber die Vorgange um
das Friedensgebet verteilt. Im
Anschlufi an das Friedensgebet wird
auf dem Nikolaikirchhof folgende
Erklarung verlesen:
„Wir, d.h. einige Mitglieder der
Leipziger kirchlichen Basisgnippen
Gerechtigkeit, Initiative Leben und
Solidarische Kirche, machen heute
noch einmaJ den Versuch, uns an die
Offentlichkeit zu wenden. Bisher hat-
ten wii die Mdglichkeit, das in der Kir-
che zu tun. Vor zwei Wochen w^urde
uns die Sprecherlaubnis durch die
VerantwortJichen entzogen. Entge-
gen den offentlichen Beteuerungen
des Superintendenten und des Pfar-
rers dieser Kirche, dai3 ihre Entschei-
dung allein vor ihrem Ge'wissen und
vor Gott getroffen ist, wissen vi^ir, daB
massiver auBerer Druck zur Abset-
zung des Friedensgebetes der Grup-
pen gefiihrt hat. In den Gebeten sind
after Stimmen laut gev\forden, die hier
im Land nicht an die Offentlichkeit
diirfen: Unzufriedenheit mit Kirche
und Staat - Protest gegen Unterdriik-
kung - Aufruf zur Sohdaritat. Damit
soIJ jetzt Schlu/3 sein !
Wir empfinden die Vorgange um die
Absetzung dieser kirchlichen Veran-
staltung als skandalds;
- zum einen, weiJ hier Entscheidun-
gen von Leuten beeinflulit werden,
die iiber das, was in einer Kirche pas-
siert, nichts zu befinden haben, Leute,
die sowohJ national aJs auch interna-
tional das Recht der freien Rehgions-
ausubung fiir ihr Land aJs verwirkJicht
erkJaren ;
- zum anderen, weii die kirchlichen
Vertreter die Verschieierung der tat-
sachiichen Sachverhalte mitbetrei-
ben, indem sie ihr eigenes Reden und
das Reden anderer nach der politi-
schen GefaUigkeit zensieren.
Wenn diese Haltung in der Kirche
zur Regel wird, sehen wir die GJaub-
wtirdigkeit dieser Institution gefahr-
det. Wir sehen uns als Christen und
als Leute, die die Wahrheit lieben, ver-
pflichtet, hier zu protestieren. Wir
rufen alle VerantwortUchen dazu auf,
die wahren Hintergriinde ihrer Ent-
scheidungen offenzuiegen und
wenigstens in ihren Raumen das
Recht der freien Meinungsau/3erung
aufrechtzuerhaJten. Wir bitten um
Solidaritat alier, die so empfinden wie
wir. Wir bitten all jene, denen die Frei-
heit der Kirche und die Freiheit der
MeinungsauBerung in diesem Land
am Herzen liegen, sich zu Wort zu meJ-
den. "
Spater verfassen auch die »Arbeits-
gruppe Menschenrechte«, die ))Frie-
densgebetsgemeinde«, der
Gesprachskreis um Pfarrer Kaden und
die iiArbeitsgruppe Umweltschutz«
Protestschreiben wegen der Ausgren-
zung der Basisgruppen vom Friedens-
gebet.
Nach dem Friedensgebet versuch-
ten etwa 200 Antragstellerlnnen eine
Menschenkette zu bilden und gingen
Richtung Markt. Dort loste sich die
Menschenkette nach dem Eingreifen
von Staatssicherheitskraften in ZivU
auf.
(Fortsetzung folgt)
Die neue Reiseverordnung
leisen fur Burger der DDR
nach dem Ausland
Nun ist sie da, die neue Reiseregelung fiir DDR-Biirger.
Erwartet und gefordert wurde eine gesetzliche Bestim-
mung, die der BehordenwOlkiir ein Ende bereitet. Auch
die Verfassung der DDR spricht von einer Gleichheit der
Biirger vor dem Gesetz:
„ Jeder Biirger der Deutschen Demokratischen Repu-
blik hat unabhangig von seiner Nationalitat, seiner Ras-
se, seinem weltanschaulichen oder rehgiosen Bekennt-
nis, seiner sozialen Herkunft und SteJiung die gleichen
Rechte und Pflichten. Gev^issens- und Glaubensfreiheit
sind gewahrleistet. Alle Burger sind vor dem Gesetz
gleich." (Verfassung der DDR, Artikel 20, Absatz 1).
Die Reiseverordnung fiir Burger der DDR nach dem
Ausland verletzt diese Verfassungsvorschrift. Zwar ist
hiernach jeder DDR-Biirger berechtigt, ins Ausland zu
reisen. Fiir Reisen in die traditionellen Bruderstaaten
miissen keine besonderen Reisegriinde vorliegen (§ 6
der Verordnung iiber Reisen von DDR-Biirgern nach dem
Ausland). Reisen in andere Staaten allerdings sind in
jedem Fall beantragungspflichtig. Sie werden als Dienst-
, Touristik- und Privatreisen unterschieden. Da Dienst-
und Touristikreisen einen eigenen organisatorischen
Rahmen haben und der Selbstbestimmung enge Gren-
zen setzen, sind besonders die Regelungen iiber die Pri-
vatreisen von Bedeutung (§§ 7-9 der VO iiber Reisen).
An Privatreisen werden nun besondere Voraussetzun-
gen gebunden, die tatsachlich nicht mehr der Verfas-
sungsvorschrift von der Gleichheit der Biirger vor dem
Gesetz ^eniigen. Ungleich vor dem Gesetz werden jetzt
Biirger in § 7 definiert durch:
— ihre Auslandsverwandtschaft
— die Anzahl der Auslandsverwandten
— besonders festgelegte FamUienereignisse im Aus-
land
— durch Alter und Invaliditat.
Hinzu kommen geschlechtsspezifische Unterschei-
dungen. Manner, die noch keinen Wehrdienst geleistet
haben, diirfen erst ab dem 26. Lebensjahr (§ 13 (2)),
Frauen ab 18 Jahre Verwandtenreisen beantragen. Kin-
der und Jugendliche der DDR sind gar nicht erst auf der
Berechtigungsliste gefiihrt (§ 7 (4)).
Die Versagungsgriinde fiir Reisen ins Ausland sind
eine weitere Einschrankung der Rechte der Biirger.
Dabei sind besonders die Versagungsgriinde aus politi-
schen Griinden problematisch, wreil in ihnen ein Ermes-
sensspielraum eingeraumt ist, der die Anwendung der
Verordnung ins Belieben staatlichen Pragmatismus
stellt. Die DDR setzt mit dieser Reiseverordnung eine
(Fortsetzung nachste Seite} .• .•